"Man kann einen Klub nur als Mitglied reformieren"

Jacques Schuster (Welt am Sonntag) interviewt Rabbinerin Elisa Klapheck über den Fall Max Czollek

Um die Zugehörigkeit zum Judentum ist eine Debatte entbrannt. Die Rabbinerin Elisa Klapheck über die deutsche Konversionspraxis und den Wert des Religiösen auch für liberale Juden 

Seit Wochen debattieren die Feuilletons über den Fall Max Czollek. Der Publizist hatte sich seit Jahr und Tag als jüdisch bezeichnet, bis der Schriftsteller Maxim Biller und der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, öffentlich machten, dass Czollek, dessen Großvater Jude war, nach dem jüdischen Religionsgesetz nicht jüdisch ist. Danach meldeten sich zahlreiche Schriftsteller zu Wort. Auch WELT AM SONNTAG (5. September) schrieb über den Fall. Merkwürdigerweise sind Rabbiner bisher da zu kaum groß befragt worden. Diese Zeitung möchte das ändern.

WELT AM SONNTAG: Frau Rabbinerin Klapheck, allein die Rabbiner bestimmen, wer Jude ist. Also: Ist Max Czollek Jude, wie er behauptet?

Elisa Klapheck: Im halachischen Sinn, also im Sinn der jüdischen Religionsgesetze, ist Max Czollek nicht jüdisch. Er könnte es aber jederzeit werden. Er muss bloß zu einem Rabbi gehen und seinen Wunsch zum Übertritt bekunden. In seinem Fall wäre das kein Problem. Er ist in Berlin auf das jüdische Gymnasium gegangen und ist auf diese Weise in einem jüdischen Umfeld groß geworden. Er kennt sich in den jüdischen Kreisen gut aus. Mir ist ein Rätsel, aus welchem Grund er die Konversion scheut.

Warum werden Rabbiner in dieser Debatte nicht um Rat gefragt?

Das wundert mich auch. Es hätte einige Klarheiten in die Debatte gebracht. Wir haben in Deutschland zwei Rabbinerkonferenzen: die Allgemeine Rabbinerkonferenz (ARK) der liberalen und konservativen Rabbiner sowie die Orthodoxe Rabbinerkonferenz (ORD). Beide Rabbinerkonferenzen sind beim Zentralrat der Juden angesiedelt, der bereits 2003 erklärt hat, die Übertritte beider Konferenzen gleichberechtigt anzuerkennen. Wir haben in Deutschland aber eine Gemeindeautonomie.
Das heißt: Jede Gemeinde bestimmt selbst, ob sie sich als orthodox, als liberal oder als Einheitsgemeinde für alle Richtungen unter einem Dach versteht. Letzteres trifft auf große jüdische Gemeinden wie Berlin oder Frankfurt zu, wo eine liberale Rabbinerin wie ich neben ihren orthodoxen Rabbiner-Kollegen tätig ist und Menschen, die über die ARK zum Judentum übergetreten sind, problemlos Gemeindemitglied werden. Übrigens wird der Übertritt über die ARK auch vom Staat Israel anerkannt. Man kann damit israelischer Staatsbürger werden.

Viele Vaterjuden, also Kinder mit einem jüdischen Vater und einer nichtjüdischen Mutter, fühlen sich als Juden, wollen aber nicht übertreten. Sie beklagen die Hürden, die vor einem Beitritt zum Judentum stehen. Ist diese Klage berechtigt?

Nein. Patrilineare Juden, wie sie heute zunehmend genannt werden, bekommen vom liberalen Judentum keine große Hürde gestellt, sondern werden unterstützt. Es gibt für sie so etwas wie ein Recht auf formelle Rückkehr ins Judentum. Niemand wird abgewiesen. Ich habe einige der Publizisten und Schriftsteller, die an der Debatte teilgenommen haben, schon lange vor der jetzigen Diskussion angesprochen und gefragt, ob sie nicht ihren halachischen Status vervollständigen wollen. Das wäre keine große Sache. Doch die angesprochenen Leute nehmen das Angebot nicht wahr. Allerdings gibt es einen Unterschied zum liberalen Judentum in angelsächsischen Ländern. In den USA und England werden Kinder jüdischer Väter, die eine jüdische Sozialisation hatten, ohne formellen Giur, also Übertritt, offiziell als Juden anerkannt. Das ist bei uns nicht so. Wir wollen den Grundkonsens der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland nicht brechen, wonach Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum übertritt.

Wie läuft eine Konversion ab?

Für jemanden, der absolut keinen jüdischen Hintergrund besitzt und Jude werden möchte, ist es - wie gesagt, im Unterschied zu patrilinearen Juden - in der Tat nicht einfach, sondern ein längeres Hineinwachsen in die jüdische Gemeinschaft. Er oder sie muss bei einem Rabbiner über das Anliegen und die Motivation vorsprechen. Es gibt durchaus Leute mit fragwürdigen Motiven, die zum Beispiel Nazi-Großeltern hatten und aus Schuldgefühlen kommen - oder aber ehemalige Christen, die der jüdischen Gemeinschaft theologisch helfen wollen, um den wahren Glauben Israels zu leben.
Da haben Rabbiner und Rabbinerinnen durchaus eine Verantwortung, ihre Gemeinde vor solchen Leuten zu schützen. Üblicherweise ist der Giur mit Lernen verbunden. Es geht um kein Glaubensbekenntnis, sondern um einen Prozess: Man lernt das jüdische Jahr mit seinen Feiertagen, die Religionsgesetze und wie sie in den verschiedenen religiösen Richtungen aufgefasst werden, jüdische Geschichte und Kultur. Jeder Giur ist individuell verschieden. Immer wieder kommt man in dieser Zeit mit dem Rabbiner oder der Rabbinerin zusammen. Und dann kommt irgendwann der große Tag: der Termin beim Bet Din, einem Rabbinatsgericht, bestehend aus drei Rabbinern. Dort wird man erneut nach den Motiven gefragt und auch das Gelernte geprüft. Es geht aber vor allem um die Zugehörigkeit. Hat die Person eine jüdische Identität? Ist sie Teil der jüdischen Gemeinschaft geworden? Im Anschluss taucht sie in der Mikwe, dem rituellen Tauchbad, unter. Die Männer müssen sich beschneiden lassen. Und dann ist man Jude.

Wie viele Menschen treten im Jahr zum Judentum in Deutschland über?

Um die 100.

Zahlreiche nicht jüdische Publizisten, aber auch einige Juden fordern eine Reform der Konversion. Ist das in Ihren Augen berechtigt?

Vielleicht ja. Aber man kann einen Klub nur als Mitglied reformieren, um es salopp zu sagen. In Deutschland muss man einen Einbürgerungstest machen und sich zum Grundgesetz bekennen, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen. Im Judentum muss man sich in die jüdische Tradition stellen, ihre Werte anerkennen, die nun mal aus der Religion hervorgegangen sind - aber keineswegs nur im engen Sinn religiös aufgefasst werden.

In der Czollek-Debatte haben sich auch Israelis zu Wort gemeldet und den Standpunkt vertreten, das Religiöse könne vom Judentum abgelöst werden. Ist das möglich?

Das ist eine typisch israelische Reaktion. Viele Israelis gehen allein von der Ethnizität aus. Das ist ein Grund, warum in Israel das Judentum in einer Krise ist. Die sogenannten säkularen Juden haben viel zu lange das religiöse Feld einem engen orthodoxen Verständnis und den Siedlern überlassen. Dem haben sie, religiös gesehen, viel zu wenig entgegenzusetzen. Zum Glück wird auch in Israel zunehmend erkannt, dass jüdische Religion, Demokratie und pluralistische Gesellschaft zusammengedacht und weiterentwickelt werden müssen. Das geht aber nur, wenn man sich auf das Religiöse einlässt.

Was in der Debatte fehlt, ist in der Tat der Hinweis, dass das Judentum zwar vieles sein mag, aber eines vor allem ist: ein Glauben. Vielleicht werden deswegen auch die Rabbiner nicht gefragt, weil diese Menschen mit dem jüdischen Glauben nichts anfangen können. Oder sehe ich das falsch?

Das kann durchaus sein. Aber ich würde das Judentum nicht in erster Linie als einen "Glauben" sehen. Die jüdische Tradition geht durchaus kritisch mit Gott und der Thora um. Der Talmud ist ein Dokument dafür, dass der Glaube zwar dazugehört, aber am wichtigsten die Auseinandersetzung ist. Viele Menschen haben Klischee-Vorstellungen von dem, was die jüdische Religion sei. Sie sind dabei vom christlichen Verständnis der Religion als "Glaube an Gott" geprägt. Aber das Judentum hat viele Richtungen. Das liberale Judentum, das ich vertrete, steht auf dem Boden der Aufklärung und hat ein modernes Verständnis von Religion in der modernen Welt. Da geht es um Werte, die uns verbinden, um Transzendenz, das Verhältnis der Religion zur Gesellschaft, um ein kritisch-konstruktives Verhältnis zu Gott und zur Thora, den fünf Büchern Mosis.

Welt am Sonntag, 3. Oktober 2021